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Kulsow -  Gespräch mit meinem Großvater im Mai 2011
 
von Frau Dr.Antje Thomas
 
HOF
 
Mein Ururgroßvater Friedrich WOCKENFUß war Seemann. Um 1900 kaufte er für sich und seine Familie einen Hof am südlichen Ende von Kulsow. Dort wurde im März 1931 mein Großvater als drittes von neun Kindern seiner Eltern Frieda, geb. KUHL und Fritz WOCKENFUß geboren.
Die benachbarten Höfe gehörten in den 1930/40er Jahren Hedwig RUNOW bzw. Familie BARSE. 
 
Wohnhaus und Stall, die unsere Familie sich mit Fräulein Runow teilte, waren aus Fachwerk, den Schweinestall hat mein Urgroßvater Fritz 1927 gemauert. Hinter dem Stall gab es einen Obst- und Gemüsegarten. Süßkirschen wuchsen aufgrund der harten Winter nicht, aber Sauerkirschen, Äpfel, Birnen und Pflaumen. Letztere wurden gern von den Eichhörnchen verzehrt. Auf die Wiese hinter dem Hof kamen oft Wildschweine.
Auf den Feldern wurden hauptsächlich Roggen und Kartoffeln angebaut. Gemahlen wurde in Lüllemin. Im Dorf hatte fast jeder Hof einen Backofen.  Während der Erntezeit wurde nach dem Brot darin auch Dürrobst zubereitet. Unserer war defekt  (die Familie buck bei MEWS´), mein Großvater schob seinen alten Großvater oft an diesen Platz, damit dieser sich - durch die noch stehenden Wände windgeschützt - sonnen konnte. Friedrich konnte im Alter nur noch liegen, eine Familienlegende erzählt, dass er nach dem 1. Weltkrieg mit einem Rentierschlitten aus sibirischer Gefangenschaft nach Kulsow heimkehrte.
Auf unserem Hof lebten 1 Pferd (der „Braune“), 2-3 Schafe, 16 Schweine, ein Hund und 5 Kühe, einen Bullen gab es auf dem Rittergut. Die Milchkannen wurden an der Milchrampe gesammelt und von den Bauern abwechselnd (je nach Kannenanzahl) zur Molkerei ins benachbarte Lüllemin gefahren. Das Rittergut verfügte über eine Milchkühlanlage und lieferte in eine Molkerei nach Stolp. Als weitere Besonderheit gab es im Gut einen Eiskeller, die Gutsbesitzer hatten auch ihren eigenen Friedhof.
 
 
KULSOW
 
Kulsow ist ein Dorf entlang einer Straße. In der Ortsmitte - auf einer Insel auf der Straße - liegt die Kirche - in Nachbarschaft zu Schule und Rittergut. Auf diesem Platz gab es am ersten Mai immer Fest und Tanz und zum Erntedankfest wurde dort die mit Blumen geschmückte Erntekrone aufgestellt.
Im Dezember holte der Gärtner des Ritterguts Christbäume für die Tagelöhner aus dem zum Gut gehörigen Mischwald, der sich über 6 km zwischen Kulsow und Lüllemin erstreckte. Den ersten warf er aber auf dem Wockenfuß-Hof ab, da er ein Skatfreund meines Urgroßvaters war.  Südöstlich, etwas ausserhalb des Dorfes- noch vor dem Wald - lagen noch der Friedhof und „hinter der Mühle“ zwei Höfe der Familien MANNZKE und KUHL (Familie meiner Urgroßmutter). 
Zum Rittergut gehörten Vorwerke (z.B. Georgenthal, Friedrichshof), von denen aus die entlegeneren Felder des Guts bewirtschaftet wurden. Ein Teil des Landbesitzes der Familie VON BOEHN war Wald. Dieser war so groß, dass neben dem Förster TRET weitere sechs Männer nur im Wald beschäftigt waren.
 
In der Kirche gab es einen Taufengel, der an der Decke hing und anlässlich von Taufen heruntergelassen wurde. Der letzte Pastor hieß FINKBEIN. 1945 wurde die Konfirmation aufgrund der nahenden Front um 4 Wochen vorgezogen. 
In der Schule lernten jeweils 1.- 4. und 5.-8. Klasse zusammen. Mädchen und Jungen gemischt. Zum Schulanfang gab es eine Zuckertüte, aber keine Feier. Die Lehrer straften mit dem Stock oder indem sie den Jungen mit einem Radiergummi über die Haare rieben. Zur eintägigen Klassenfahrt ging es mit einem Fuhrwerk des Guts an die Ostsee. Die Kinder haben nicht schwimmen gelernt. Eine weiterführende Schule gab es in Köslin, eine Universität in Kolberg.
In Kulsow gab es eine Gastwirtschaft mit Kolonialwarenhandlung, die Gustav WOCKENFUß - einem weiteren Sohn Friedrichs - gehörte (Gustavs Witwe heiratete den späteren Bürgermeister KREFT) sowie die Brennerei (auf dem Gutsgelände).
Zur Gastwirtschaft gehörte auch ein PKW, auf dem Gut waren 3-4 Busse geparkt, zweimal am Tag fuhr ein Bus in die Kreisstadt.
 
 
LEBEN
 
In Bartin, einem größeren Ort südlich von Kulsow, gab es ein Krankenhaus und die für Kulsow zuständige Hebamme. Meine Urgroßmutter brachte alle Kinder- bis auf die jüngste Tochter, die in Bartin geboren wurde- zu Hause zur Welt. Die Säuglinge standen im Kinderwagen auf dem Hof, wo die jungen Mütter schon bald nach der Entbindung wieder arbeiteten. Die Babys wurden gestillt und sobald die Kinder laufen konnten, kamen sie mit aufs Feld, wo die Eltern arbeiteten. Abends hat mein Urgroßvater oft mit seinen Kindern geturnt.
Kleidung wurde im Kaufhaus Zeeck in Stolp gekauft. Manchmal aber auch nur Stoffe - die auf dem Hof lebende unverheiratete Schwester Ida meines Urgroßvaters nähte Kleidung selbst.
Die Kinder spielten mit beklebten Bausteinen, mit Puppen und gemeinsam mit den Nachbarskindern im Wald. Bonbons gab es sehr selten und aus diesem Grund waren diese bei den Kindern auch schnell vergriffen.
Die Winter waren schneereich und lang. Im Wald  lag der Schnee manchmal bis Mai. Die Kinder füllten den Straßengraben am 4m hohen Hügel gegenüber unseres Hofes mit Schnee und rodelten bis in den Hof hinein. Manchmal hängten sich bis zu 10 Kinderschlitten an einen Pferdeschlitten. 
Die Jugendlichen aus fünf Dörfern mussten zum Konfirmandenunterricht nach Zirchow, wo der Pfarrer wohnte. Im Winter fuhren sie mit Schlittschuhen auf dem Kotlowbach und der Stolpe dorthin. Dem Pfarrer war das gar nicht recht, da ihn das Geklappere der Schlittschuhe im Unterricht störte.
 
Schon vor 1931 gab es Strom im Ort (nicht auf den beiden Höfen außerhalb und im Forsthaus), ein öffentliches Telefon auf der Post  (Postbeamter hieß NOFFZ) und in den Haushalten batteriebetriebene Radios. 
 
Jeden Morgen hängten die Bauern ihre Kühe im Stall ab. Der Gutsarbeiter VENTZKE ging durchs Dorf, blies in ein Kuhhorn und die Rinder folgten ihm auf die Wiesen.
Der Nachtwächter hieß Otto LOLL, der Schneider GROTH. 
 
Eine Hochzeit im Dorf war ein großes Schauspiel für die Kinder. Fast jeder Bauer stellte ein geschmücktes Fuhrwerk und so fuhr ein langer Festzug, begleitet von Schifferklaviermusik zur Kirche und nach Kunsow zum Standesamt. Die Kinder folgten den Wagen durch das ganze Dorf.
 
Die Männer bildeten eine freiwillige Feuerwehr. Der Spritzenwagen stand auf dem Gut und wurde mit Pferden gezogen. Dreimal kurzes Kirchenglockengeläut bedeutete Alarm.
 
 
CHRISTEL
 
Im Sommer 1942 stand die damals 13jährige Schwester meines Großvaters mit Freunden (Dorchen RUNOW sowie einer Tochter der Familie MEWS, Walter WOGGON und Joachim NOFFZ) am Zaun der Familie MEWS. Es fuhren LKWs vorbei, die Langholz transportierten. Ein Fahrer überholte ein Fuhrwerk, der Anhänger seines LKWs kam in der Kurve von der Straße ab und schleuderte in die Kindergruppe.
Die beiden Jungen und Christel wurden verletzt. Christel starb nach ca. 10 Tagen im Krankenhaus in Bartin und wurde auf dem Friedhof von Kulsow beerdigt. Die Jungen überlebten. 
 
 
KRIEGSENDE
 
Am 14. Februar 1945 stürzte abends eine JU 52, die Verwundete von der Front transportierte, zwischen dem KUHL-Hof und dem Forsthaus ab. Der Höhenmesser hatte versagt und die Maschine prallte bei der Notlandung gegen einen Baum. Die Insassen wurden zunächst ins Haus der Familie KUHL gebracht, wo die Erwachsenen gerade den Geburtstag der Großmutter meines Opas feierten. Die Kinder waren in der Schule, dort wurde alle 14 Tage ein Kinofilm gezeigt. Da der Hohlweg zur Straße verweht war, wurden die Jugendlichen geholt, um die Verletzten ca. 500 m zur Straße zu tragen. Beleuchtung kam nur von einer Taschenlampe, wegen des ausgelaufenen Treibstoffs konnte kein offenes Feuer benutzt werden. Mein Großvater erinnert sich, dass die Helfer auf Wrackteilen liefen, worunter aber noch Verletzte lagen, die daraufhin schrieen. Der Absturz hatte sieben Tote zur Folge, die gemeinsam in einem Grab neben dem Friedhof beerdigt wurden, wodurch der neue Friedhof entstand.
 
Anfang März 1945 ließen die Bewohner von Kulsow ihre Tiere frei und flüchteten vor der Russischen Armee in Richtung Ostsee. Sie wurden noch vor Danzig von den Russischen Soldaten eingeholt, in einer Reihe aufgestellt, anderthalb Stunde mit einer MP bedroht, die Pferde wurden angefahren, der Wagen meiner Familie einen Hang hinunter gestoßen, so dass mein Großvater und sein Vater Stunden brauchten, um ihn wieder fahrbar zu machen, während die anderen Dorfbewohner wieder Richtung Kulsow zogen. Sie kehrten nach 14 Tagen zurück, und fanden ihre Häuser geplündert und verwüstet vor. In den Wohnräumen lag Stroh, offenbar hatten Soldaten dort geschlafen.
 
Am 16. April kam abends -trotz Sperrstunde- der Vater meines Opas nicht vom Feld, wo er Maulwurfshügel begradigen wollte, nach Hause. Mein Großvater- damals 14jährig - machte sich am nächsten Morgen mit seiner Tante auf Schleichwegen - die Straßen durften nicht benutzt werden - auf die Suche und fand seinen Vater erschossen auf dem Acker. An diesem Abend waren in Kulsow sieben Menschen von den betrunkenen Russen erschossen worden, z.T. vor Zeugen und mit vielen Schüssen -erst in die Beine etc.
 
Der Tischler Heinrich PETT fertigte aus seinen Restbeständen (es gab kein Material mehr) Särge für die Getöteten.
 
Da sein Vater tot war, hat mein Opa als ältester Sohn die Roggenernte selbst bewältigt. Er hatte nur noch die Sense und einen Handwagen als Hilfsmittel. Als er fertig war, haben die Russen die Ernte mitgenommen. Die Kinder wurden von den Russen für mehrere Tage verschleppt, sie mussten ihr Vieh bis kurz vor Köslin treiben, von wo aus es nach Russland transportiert wurde. Die Eltern wussten nicht, wo die Kinder waren. Die Kühe kannten ihre ehemaligen jungen Besitzer und kamen unterwegs zum Melken zu ihnen gelaufen. Mit dem ältesten Verschleppten - einem Bauern aus Kulsow- und einem russischen Begleitschreiben konnten die Kinder auf einem Fuhrwerk wieder wohlbehalten durch alle russischen Kontrollen nach Hause gelangen.
Die Familie lebte 1946/47 in einem Tagelöhnerhaus, da ihr Hof besetzt war. Sie litten Hunger und auch die Kinder mussten für die Russen 19 Stunden am Tag arbeiten. Sie mussten Getreide dreschen, Heu und Stroh pressen, mein Opa war mit einem Fuhrwerk unterwegs. Sie bekamen dafür nichts, waren hungrig und müde. War man morgens zu spät, standen die Soldaten mit dem Maschinengewehr vor der Tür: “ Dawai, dawai...“
 
Auf Grund dieser schlechten Lebensbedingungen beantragte meine Urgroßmutter die Ausreise für die Familie, dafür musste man viel Geld bezahlen. Jeden Abend wurde verlesen, wer am Folgetag ausreisen durfte. Im August 1947 kam eines Abends die Ausweisung. Am nächsten Tag stand ein Güterzug mit unbekanntem Ziel in Stolp bereit. 
 
 
Familie Wockenfuß